Lissabon Saudade

Verlorene Kinder II – Das Streichholzmädchen

von Beate Mitzscherlich

 

Es fing schon so komisch an. Damals als ich sie kennengelernt habe. Auch nachts. Es war eine von den Nächten, in denen ich mit dem Auto durch die Stadt gefahren bin. Einfach nur so, weil ich nicht schlafen konnte. Am Roßplatz kreuzte ein großer schwarzer Hund über den Ring und lief rüber zum Bayrischen Bahnhof. Ganz zielstrebig, die Nase dicht am Boden. Wahrscheinlich hatte er sein Herrchen verloren. Hunde können das, eine Spur verfolgen- immer dem Geruch nach.

 

An der Ampel am Ostplatz muß ich längere Zeit gestanden haben, obwohl sie nach Mitternacht immer auf Gelb geschaltet ist. Erst als es an mein Seitenfenster klopfte, bin ich aufgeschreckt. Draußen stand das Streichholzmädchen. Weißhäutig, spitznasig, die schmalen weißen Hände steckten in schwarzen elzärmelchen. »Fahren Sie zufällig nach Schönefeld?« Das ist am anderen Ende der Stadt. Ich nickte.

 

Sobald sie in meinem Auto saß, fing sie an, ununterbrochen zu reden. Daß sie bei der Disko war im TV-Club. Jetzt fährt ja kein Bus mehr. Sie hat eine Freundin besucht, die wohnt in Schönefeld im Studentenwohnheim, aber die ist schon eher gegangen. Es ist ja bei der Kälte nicht gerade angenehm, auf der Straße zu stehen. Für ein Taxi hat sie kein Geld. Aber Angst hat sie eigentlich auch nicht. Um die Zeit ist ja kaum noch einer unterwegs. Sie kommt aus G., da ist am Wochenende überhaupt nichts los. Ab und zu braucht sie mal neue Leute. Es ist ja nicht auszuhalten, wenn man alles schon kennt. Da ich nicht antwortete, verstummte sie nach einer Weile. In Schönefeld kenne ich mich überhaupt nicht aus, sie mußte mir den Weg zum Wohnheim zeigen. Ich hielt direkt vor dem Eingang. Sie fragte: Warum hast du mich mitgenommen?« »Ich weiß nicht« antwortete ich. »Vielleicht weil ich nachts immer Angst habe.« Ich fuhr nach Hause, legte mich hin und konnte gleich schlafen. Bloß der schwarze Hund lief weiter durch meinen Traum, die Nase dicht am Boden.