Miracles

Augenblicke, Hingucker, Zufälle und kleine Wunder …

Innenleben

von Beate Mitzscherlich

 

Mir gegenüber in der U-Bahn sitzt eine Frau in kurzem, pinkfarbenen Kostüm. Ich sehe nicht ihr Gesicht, nur die kleine, dreieckige Handtasche, die sie auf dem Schoß hält. Manikürte Hände. Mehrere schmale Goldringe. Kein Ehering. Die Tasche ist aus durchsichtigem Plastik. Bis auf die Aufschrift von einem Parfümhersteller. Joop oder so. Man kann alles sehen, was die Frau bei sich trägt: ein kleines, braunes Portemonaie, eine angerissene Packung Tempotaschentücher und ein Stück irische Butter.

 

Sowas müßte verboten werden. Wo kommen wir hin, wenn jeder sein Leben so offensichtlich vor den anderen ausbreitet? Denken Sie bloß mal an Ihre Tasche. Oder, oh Gott, was denken Sie, ist in meiner?

Much more

von Beate Mitzscherlich

 

Auf der Straße vor unserem Haus treffe ich fast jeden Tag zwei Geschwister. Sie wohnen im Nebeneingang. Es gibt sie nur im Doppelpack, einzeln sehe ich sie nie. Das große Mädchen ist höchstens fünfzehn, aber es hat ein Gesicht wie eine Vierzigjährige. Kantige Kiefer, zusammengebissene Zähne, Wut, Trotz und Verachtung für diese ganze verdammte Welt im Blick. Die Kleine könnte gerade in die Schule gekommen sein, hat kurzes, fuseliges Haar und guckt nie jemanden an. Früh sehe ich die zwei immer zusammen in die Kaufhalle gehen, die Große stapft breitbeinig vornweg, die Kleine trottelt hinterher. Daß die Große die Kleine an die Hand nimmt, habe ich noch nie gesehen. Wenn sie wiederkommen, hat die Große meistens eine Fanta und die Kleine einen Schokoriegel. Daß sie dieses Frühstück bezahlt haben, würde ich nicht beschwören. Die Eltern sieht man nie, hört sie aber, wenn sie genug getrunken haben, bis zu mir hoch, obwohl noch etliche Wohnungen dazwischenliegen. Wenn die Eltern mal nicht da sind, dreht die Große auf dem Balkon das Radio laut auf. Stimmungsmusik. Da fahren die Rabauken unten auf der Straße Kreise mit ihren Fahrrädern. Neulich habe ich die zwei im Wartezimmer beim Arzt getroffen, die Kleine saß völlig verstört auf ihrem Stuhl und schien sich in Grund und Boden zu schämen, die Große erwiderte meinen Blick voller Mißtrauen. Die Ärztin wußte gleich, wen ich meine: Die brauchen bestimmt wieder eine Entschuldigung für die Schule. Als ich sagte: Gucken sie da doch mal genauer hin, fragte sie: Wozu? Wer will das schon wissen? Falls ich überhaupt was finde. Die Eltern nicht. Die Schule schon gar nicht. Noch nichtmal das Jugendamt interessiert sich dafür. Die können doch auch bloß nichts machen. Für solche Kinder gibt es keinen Ausweg. Wenn die groß sind machen sie da weiter, wo die Alten aufgehört haben. Aber es sind dankbare Patienten …

 

Als ich ins Wartezimmer zurückkam, wurden die beiden gerade aufgerufen. Die Große knurrte: »Komm« und schob die Kleine vor sich durch die Tür. Wenn die Kleine nicht da wäre, denke ich, wäre sie schon längst abgehauen. Ich lese die Aufschrift hinten auf ihrer Jacke: Much more. Steht da drauf. Weiß auf rotem Grund. Much more.